29 Nov „Mit Heranwachsenden müssen wir anders umgehen“
Längst nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen: Heranwachsende, die psychisch erkranken, fallen nicht selten aus den etablierten Versorgungsstrukturen heraus. Bei Vitos gibt es deshalb seit Kurzem eine Station für Adoleszente. PD. Dr. med. Harald Scherk, Klinikdirektor des Vitos Philippshospitals Riedstadt, und Dr. med. Annette Duve, Klinikdirektorin der Vitos Klinik Hofheim in Riedstadt, stellen ihr Konzept zur Behandlung heranwachsender Patienten vor.
An welche Patienten richtet sich das Angebot der Adoleszentenstation?
Annette Duve: An Patienten zwischen 16 und 25 Jahren. Dazu gehören Jugendliche, die eine psychische Erkrankung entwickeln, bei der die kinderpsychiatrische Behandlung nicht ausreicht, um die Symptomatik auszuheilen. Außerdem richtet sich das Angebot an junge Erwachsene. Je nach Entwicklungsstand benötigen diese Patienten häufig noch eine intensivere Betreuung, die ihnen mehr Unterstützung und Fürsorge bietet, als das in der Erwachsenenpsychiatrieüblich ist.
Harald Scherk: Wir begegnen in der Erwachsenenpsychiatrie immer wieder Patienten, die 21 Jahre oder älter sind, sich aber noch wie Jugendliche verhalten. Da stoßen wir an unsere Grenzen, weil wir mit diesen Patienten ganz anders umgehen müssen. Von dem neuen Konzept erhoffen wir uns, dass wir den Bedürfnissen dieser Patienten besser gerecht werden können.
Wie sähe ein konkretes Beispiel aus?
Scherk: Nehmen wir einen 21-jährigen Mann, der in einer akuten Krise zu uns kommt. Er ist persönlich noch nicht ausgereift, sondern verhält sich wie ein 14-Jähriger. Bei Konflikten reagiert er anders, als man es für sein Alter erwarten dürfte – also beispielsweise launisch, trotzig. Eben wie ein Pubertierender.
Duve: Es gibt auch eine Reihe von jungen Erwachsenen, die nicht mehr zur Schule gehen und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in einer Ausbildung Fuß fassen können. Da brauchen wir mehr Anbindung an berufsbildende Maßnahmen. Es gibt bei uns deshalb unter anderem eine enge Kooperation mit der Peter-Härtling-Schule. Das ist die Schule für Kranke hier auf dem Gelände von Vitos Riedstadt. Ziel ist, dass wir unseren Patienten eine schulische und berufliche Perspektive eröffnen können.
Weshalb ist die Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie für Adoleszente nicht geeignet?
Duve: Wir haben gemerkt, dass wir viele junge Erwachsene verlieren. Sie wachsen aus der Kinderpsychiatrie raus, wo sie vollstationär bis zum 18. Lebensjahr, ambulant im Einzelfall auch bis zum 21. Lebensjahr behandelt werden können. Spätestens dann müssen wir Übergänge schaffen. Die Jugendlichen empfinden diesen Schnitt als sehr willkürlich. Manche docken kurz in der Erwachsenenpsychiatrie an, verschwinden dann aber von der Bildfläche und tauchen erst Jahre später wieder auf – dann mit einem chronifizierten Krankheitsbild. Uns geht also eine wichtige Behandlungsphase verloren, bei der wir einer Chronifizierung noch vorbeugen könnten. Und vor allem könnten wir in dieser Phase eine Reintegration in soziale Systeme noch besser hinkriegen. Wenn die jungen Patienten erstmal zwei oder drei Jahre aus schulischen oder beruflichen Systemen raus sind, ist die Wiedereingliederung umso schwerer.
Wieso können die Patienten nicht immer direkt in der Erwachsenenpsychiatrie weiter behandelt werden?
Duve: Die Stationen der Erwachsenenpsychiatrie sind sehr gemischt. Das bedeutet, Adoleszente werden dort mit älteren chronisch kranken Erwachsenen konfrontiert. Das kann abschreckend wirken, weil jungen Patienten dann vor Augen haben, wie sich ihr Krankheitsbild entwickeln kann. Die Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie richtet ihr Augenmerk außerdem stärker auf die Einzelinitiative. Manche der jungen Patienten benötigen aber noch ein schützenderes Umfeld. Die Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist wiederum für ältere Jugendliche zu unterstützend. Dort gibt es relativ enge Regeln, einen hohen Betreuungsschlüssel. Wir beziehen die Eltern mit ein, Eigenständigkeit und Eigenverantwortung spielen eine geringere Rolle. Um den Übergang gut gestalten zu können, benötigen wir aber eine Mischung aus beidem.
Welche Krankheitsbilder können auf der Adoleszentenstation behandelt werden?
Scherk: Es gibt keine großen Einschränkungen, was die Erkrankungen angeht. Das Problem, einen geeigneten Übergang zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie zu schaffen, ist ja nicht diagnosebezogen. Wir werden auf der Station also eine große Bandbreite von psychiatrischen Diagnosen behandeln. Allerdings gibt es eine kleine Einschränkung: Wenn eine Suchterkrankung im Vordergrund steht, dann erscheint uns dieses Setting nicht geeignet.
Welche tagesstrukturierenden Angebote gibt es?
Duve: Wir stellen für alle Patienten dieser Station ein schulisches Angebot zur Verfügung. Neben der Regelbeschulung stoßen wir auch berufsbildende Maßnahmen an oder bieten schulische Inhalte der Berufsschule. Ergänzend vermitteln wir Berufspraktika. Entweder bei uns vor Ort auf dem Gelände, zum Beispiel in der Gärtnerei, oder auch in Kooperationen mit ortsansässigen Firmen. Wir haben hier bei Vitos Riedstadt die Möglichkeit, die Behandlung vollstationär, teilstationär oder auch ambulant akut durchzuführen. Damit können wir Übergänge, zum Beispiel in berufsfördernde Maßnahmen, sehr gut begleiten.
Hintergrund
Die Adoleszentenstation des Vitos Klinikums Riedstadt hat im September 2019 eröffnet. Sie ist die erste ihrer Art in Hessen. Die Station bietet 16 vollstationäre Plätze sowie vier Plätze für eine ambulante Akutbehandlung (AAB). Das Behandlungsangebot richtet sich an Heranwachsende im Alter von 16 bis 25 Jahre.
PD Dr. med. Harald Scherk ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Riedstadt und Klinikdirektor des Vitos Philippshospitals Riedstadt.
Dr. med. Annette Duve ist Klinikdirektorin der Vitos Klinik Hofheim in Riedstadt, einem Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.
Bildquellen: Vitos, Heiko Meyer, iStock