„Wie es in den Wald hineinruft …“
Mit unserem eigenen Verhalten beeinflussen wir das Verhalten anderer. Dieses Schema hilft bei der Behandlung von Depressionen.
Freundlichkeit ist ein Bumerang. Unfreundlichkeit auch. Jeder von uns hat schon Situationen erlebt, in denen deutlich zu spüren war, wie Menschen sich in ihrem Verhalten gegenseitig beeinflussen. Oft ganz unbewusst.
Der US-amerikanische Psychologe Donald J. Kiesler hat sich schon vor Jahrzehnten intensiv mit der Diagnostik und Therapie von sogenannten interpersonellen, also zwischenmenschlichen, Problemen beschäftigt. Daraus hat er 1983 ein Modell entwickelt, das heute an vielen psychiatrischen Kliniken Bestandteil der Therapie ist: den Kiesler Kreis. Er beschreibt die Wechselwirkungen menschlichen Verhaltens. Auch die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen setzt das Modell auf ihrer Depressionsstation zur Therapie ein – und zwar in einer eigenen, ganz besonderen Form.
Prof. Dr. Michael Franz ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg. Dr. Julia Kuhl arbeitet als Ärztin auf der Depressionsstation in Gießen und Yvonne Schmidt ist auf der gleichen Station Teil des Pflegeteams. Alle drei erläutern im Interview, warum sie ein eigenes Kiesler-Kreis-Modul für ihre Schwerpunktstation (Station 9) entwickelt haben.
Der Kiesler Kreis – was ist das eigentlich?
Julia Kuhl: Das Modell beschreibt, dass wir uns im zwischenmenschlichen Kontakt in bestimmten Mustern verhalten und uns darin gegenseitig beeinflussen. Der Kreis hat zwei Hauptachsen: Kontrolle und Zugehörigkeit. So bewegen sich Menschen in Beziehung zwischen den Polen „dominant“ und „unterwürfig“ (Kontrolle), sowie „Nähe“ und „Distanz“ (Zugehörigkeit). Weil man selten menschliches Verhalten „schwarz-weiß“ nur einem Pol zuordnen kann, gibt es Mischkategorien. Z. B. kann ich jemandem freundlich einen Vorschlag machen (nah-dominant) oder jemandem mit gerunzelter Stirn einen Befehl geben (distanziert-dominant).
Nach dem Motto: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“ beeinflussen sich zwei Personen immer gegenseitig, wenn sie miteinander kommunizieren. Wenn wir nah, freundlich nach etwas bitten, kommt es eher zu einer freundlichen Antwort. Wohingegen auf distanziertes Verhalten auch eher mit Feindseligkeit reagiert wird. Für die Achse der Kontrolle gelten gegensätzliche Zugkräfte. Dominantes, selbstbewusstes Auftreten führt zu unterwürfigem Verhalten beim Gegenüber.
Wie kann dieses Modell Patient/-innen mit Depressionen helfen?
Julia Kuhl: Das Psychotherapieverfahren CBASP („Cognitive Behavioural Analysis System of Psychotherapy“) nutzt den Kiesler Kreis in der Behandlung von chronisch depressiven Patienten. CBASP geht davon aus, dass sich chronisch depressive Menschen in einem „zwischenmenschlichen Dilemma“ befinden: Aufgrund ihrer biographischen Lernerfahrung haben sie wenig Gespür für die Auswirkungen ihres Verhaltens auf Mitmenschen und sorgen so unbewusst immer wieder für Konfliktsituationen. Diese führen wiederum zu Isolation und erhalten die Depression weiter aufrecht.
Ein Beispiel: Manche Patient/-innen verhalten sich aufgrund von traumatisierenden Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit tendenziell distanziert-unterwürfig. So reagieren Mitmenschen – in Anbetracht der Zugkräfte des Kiesler Kreises – eher auch distanziert und dominant auf sie. Und damit werden negative Grundannahmen zu Hoffnungs- und Hilflosigkeit im Kontakt immer wieder bestätigt.
Das Kiesler-Kreis-Training als Teil der CBASP-Therapie hilft den Patient/-innen, ihre Wirkung auf andere Menschen einzuschätzen und die Konsequenzen ihres Verhaltens bei ihrem Gegenüber zu erkennen. Die Patient/-innen lernen, sich flexibel auf den Achsen des Kiesler Kreises zu bewegen. So erleben sie sich als wirksamer, da sie durch neue Verhaltensstrategien eigene Ziele besser erreichen und mit ihren Mitmenschen in Kontakt treten können.
Wie sieht das Gruppenangebot zum Kiesler Kreis auf Ihrer Station aus?
Yvonne Schmidt: Unser Kiesler-Kreis-Modul besteht aus drei Elementen, die eng verzahnt sind. Da ist einmal die Kiesler-Kreis-Gruppe: Hier bringt ein/e Patient/-in eine zwischenmenschliche Problemsituation in die Gruppentherapie ein. Die Teilnehmenden besprechen diese anhand einer Situationsanalyse und des Kiesler Kreis. Ziel ist es, ein funktionales Alternativverhalten zu erarbeiten – unter anderem durch Rollenspiele sowie Shaping (Erlernen/Formen) des funktionalen Verhaltens. Die Leitung der Gruppe übernehmen Psycholog/-innen und Ärzt/-innen.
Ein weiterer Teil des Moduls ist das Kiesler-Kreis-Training – ein Fertigkeitstraining zur Überwindung interpersoneller Probleme. Neue Verhaltensweisen sollen auf spielerische Art und Weise ausprobiert und erlernt werden. Ziel dieser Gruppe ist das Erlangen einer interpersonellen Flexibilität. Das Training besteht aus zwei Interaktionsschwerpunkten: nonverbale Kommunikation und verbale Kommunikation. Diese wiederholen sich im 14-Tage-Rhythmus. Die Leitung der Gruppe übernehmen die Pflegemitarbeiter/-innen.
Unser Modul wird abgerundet durch das „Do-it-yourself-Element“. Die Patientengruppe wiederholt dabei eigenständig das Kiesler-Kreis-Kartenspiel, welches im Kiesler-Kreis-Training vor- und nachbesprochen wird. Dazu wird jede Woche ein neuer Patientensprecher benannt. Ziel ist es, die Gruppendynamik zu stärken sowie den jeweiligen Interaktionsschwerpunkt zu vertiefen.
Was ist das Besondere daran?
Yvonne Schmidt: Wir sehen, wie wirksam es ist. Erst neulich kam ein Patient aus der Belastungserprobung zurück und berichtete, dass er bei einer Wohnungsbesichtigung mit vielen Mitbewerber/-innen dem potenziellen Vermieter nah-dominat gegenübergetreten sei. Dieser sei seinem Wunsch, die Wohnung anzumieten, nachgekommen! Der Patient war so glücklich über seinen Erfolg und dankbar, dass ihm die Erfahrungen aus dem Kiesler-Kreis-Modul weitergeholfen haben.
Genau das üben wir im Kiesler-Kreis-Training spielerisch, indem wir unterschiedliche Alltagssituationen nachspielen und anhand von Gruppenfeedback shapen (Verhaltensweisen formen/erlernen). Die Patient/-innen haben dabei auch viel Spaß.
Damit haben wir es geschafft, ein innovatives und multiprofessionelles Gruppenangebot zum Kiesler-Kreis-Modell auf unserer Station zu etablieren und ich bin stolz darauf, ein Teil davon zu sein. Wir vom Pflegeteam haben uns das Motto von CBASP-Erfinder James McCullough – „Keep it simple“ – zur Mission gemacht und ein einzigartiges Kartenspiel für diesen Teil des Kiesler-Kreis-Moduls entwickelt.
Prof. Dr. Michael Franz: Dies möchte ich unterstreichen. Die multiprofessionelle Zusammenarbeit existiert bei uns nicht nur auf dem Papier, sondern alle Berufsgruppen werden in den relevanten Therapiemethoden in den Workshops gemeinsam weitergebildet. Dass unterschiedliche Professionen, hier Pflegemitarbeiter/-innen, Ärzt/-innen und Psycholog/-innen gemeinsam ein solches Modul entwickeln und ausführen, ist in diesem Kontext ausdrücklich gewollt und wird durch die Ärztliche und Pflegedirektion unterstützt. Und die Resonanz der Teilnehmer/-innen beim jüngsten bundesweiten CBASP-Netzwerktreffen auf unser Kiesler-Kreis-Modul war eindeutig: Das Ergebnis kann sich sehen lassen!
Warum setzen Sie nicht das komplette CBASP-Programm ein, sondern eben dieses Modul?
Prof. Dr. Franz: Die Wirksamkeit von CBASP bei chronischer Depression ist sehr gut belegt und Patient/-innen erhalten in unserem Haus diese Therapieform. Für uns in der Versorgungspsychiatrie ist allerdings entscheidend, jedem/r Patient/-in ein hochwertiges Psychotherapieangebot zu machen. Dabei müssen wir auf die hochgradige Komorbidität (Mehrfacherkrankungen) unserer Patient/-innen Rücksicht nehmen.
Einerseits wissen wir sehr genau, dass die Stärkung interpersoneller Fertigkeiten, wie sie in dem Kiesler-Kreis-Modul erfolgt, in vielen unterschiedlichen Fällen wirksam ist. Und zwar nicht nur bei Depression, sondern z. B. auch, wenn soziale Ängste, unterwürfiges oder auch dominantes Verhalten für die Aufrechterhaltung einer psychischen Erkrankung verantwortlich sind.
Zum anderen beobachten wir in der prozessbasierten kompetenzorientierten modularen Psychiatrie kontinuierlich die aktuellen Kompetenzdefizite unserer Patienten. Auch diese müssen adressiert werden, damit die Patient/-innen wieder außerhalb der Psychiatrie leben, Therapie machen und arbeiten können. Dabei geht es um weitere Bereiche wie zum Beispiel die Emotionsregulation oder Vermeidungsverhalten, die besonders häufig für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen verantwortlich sind. Diese werden prozessbasiert modular adressiert, sodass ein/e Patient/-in auf individueller Ebene passgenau die Therapiemodule erhält, die im Einzelfall weiterhelfen.
Informationen zum Behandlungskonzept der Depressionsstation an der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen: https://www.vitos.de/gesellschaften/vitos-giessen-marburg/einrichtungen/vitos-klinik-fuer-psychiatrie-und-psychotherapie-giessen/behandlungsschwerpunkte/depressionen
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