Psychiatrie zwischen Fürsorge und Akzeptanz des freien Willens

Freier Wille

Psychiatrie zwischen Fürsorge und Akzeptanz des freien Willens

Es ist eine uralte theologische, philosophische und psychologische Frage, ob der menschliche Wille frei ist oder nicht. Kaum etwas wird im Grenzgebiet zwischen Theologie, Philosophie, Neurophysiologie und Psychiatrie so kontrovers diskutiert: Hat der Mensch einen freien Willen oder handelt es sich bei der Willensfreiheit schlichtweg um eine Illusion.

Neurowissenschaftler vertreten die Meinung, dass es gar keinen freien Willen gibt. In einem Experiment zeigte der amerikanische Physiologe Benjamin Libet, dass sich bei Probanden, die sich zwischen zwei Tasten zu entscheiden haben, diese Entscheidung aus den elektrischen Reizmustern des Gehirns lesen lässt, noch bevor der Proband sie bewusst trifft. Nach Libets Auffassung denken wir, wir hätten uns bewusst entschieden, dabei hat das Hirn die Entscheidung bereits vorweggenommen. Anders ausgedrückt: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ Wenn dem so wäre, dann wäre dies eine gewaltige Erschütterung für unser Menschenbild, vor allem für unsere Begriffe von Schuld und Verantwortung. Wie sollte man einen Delinquenten verurteilen, wenn er gar nicht anders konnte?

Wir treffen aus eigenem Willen heraus eine Wahl

Doch bevor man den freien Willen nur als messbaren elektrischen, biochemischen Impuls abschreibt, sollte man darüber nachdenken, was mit freiem Willen eigentlich noch gemeint ist. Anders betrachtet bedeutet freier Wille nämlich, dass Menschen selbstbestimmt handeln und die Fähigkeit haben, sich zu einem Verhalten aufgrund bewusster Motive zu entscheiden. Ihre Wünsche und Absichten sind Ursachen ihrer Handlungen. Wir treffen aus eigenem Willen heraus eine Wahl, wir entscheiden uns für oder gegen etwas. Auf dieser Sicht beruht unsere gesamte Gesetzgebung: der Mensch verfügt über einen freien Willen und über ein Freiheitsbewusstsein. Im Grunde lässt sich derzeit nicht abschließend sagen, was der freie Wille ist oder sein könnte, die Frage, ob es ihn gibt oder nicht, bleibt offen.

Der freie Wille ist unantastbar

Was bedeutet das aber für den psychiatrischen Alltag, wo man Menschen in bestimmten Lebenssituationen ihren freien Willen aberkennt? Etwa Kindern oder Menschen, die demenziell erkrankt sind oder sich in einer akuten ver-rückten Lebenslage befinden, mit der Gefahr, sich selbst oder anderen zu schaden? Wie gelingt es hier, den freien (also den eigentlichen) Willen zu ermitteln und was zeichnet ihn aus?

Im medizinethischen Diskurs hat sich das Prinzip der Patienten-Autonomie als wichtigste Orientierung durchgesetzt; dem Willen des Patienten wird eine grundlegende Bedeutung gegeben. Aber wie auch bekannt ist, kann das Recht des psychiatrischen oder dementen Patienten auf autonome Willensentscheidung und Handlungsfreiheit außer Kraft gesetzt werden, womit dem Patienten die momentane Einwilligungsfähigkeit abgesprochen wird. Das ist jedoch keine Rechtfertigung für eine Zwangsbehandlung.

In der Praxis schwanken die Betroffenen, an erster Stelle die Ärzte, zwischen Fürsorge, Zwangsmaßnahmen oder dem Verzicht auf Zwang (der wiederum als eine Unterlassung von lebensnotwendigen Hilfeleistungen ausgelegt werden könnte) und dem ausführlichen und zeitaufwendigen Ermitteln, ob es nicht doch eine klare Willensentscheidung des Betreffenden geben könnte, hin und her. Je nachdem, wie sich die Behandlerteams in einem solchen Dilemma entscheiden, erleben die Patienten medizinisch notwendige Maßnahmen als Übergriffe und werden in der Psychiatrie, die ihnen helfen will, ein weiteres Mal traumatisiert.

Vertrauen als Basis für einen wertschätzenden Umgang

Eine nachvollziehbare Aufklärung über die medizinisch notwendig erscheinenden Schritte, genügend Geduld für den Versuch, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen, Verhandeln statt zu schnelles Behandeln, Einbeziehen von Vertrauenspersonen, das Respektieren eines schriftlichen Patientenwillens, die Akzeptanz einer Behandlungsvereinbarung oder einer Patientenverfügung können (wenn auch sicher nicht in allen Fällen) Vertrauen schaffen – als Basis für ein wertschätzendes Umgehen miteinander.

Autor/-in
Beatrix Franke, Ethikbeauftragte