Krieg zu erleben, erschüttert das Grundvertrauen

Krieg zu erleben, erschüttert das Grundvertrauen

Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen – Auslöser und Therapiemöglichkeiten

Zerstörung, Tod, Leid und das ständige Gefühl von Unsicherheit – Krieg und Flucht zu erleben, kann traumatisieren. Kinder können daraufhin, genau wie Erwachsene, eine Traumafolgestörung entwickeln.

Darüber haben wir mit Dr. Dietmar Eglinsky, Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel, gesprochen. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erklärt im Interview, warum es zu Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen kommt und wie diese behandelt werden. Er gibt wertvolle Tipps, woran man eine Traumafolgestörung erkennt und wie das Umfeld ein traumatisiertes Kind unterstützen kann.

Was ist ein psychisches Trauma bei Kindern?

Dr. Dietmar Eglinsky: Ohnmacht und Hilflosigkeit sind die vorherrschenden Gefühle, die ein traumatisches Erlebnis bei Betroffenen auslöst. Psychische Traumata bei Kindern unterscheiden sich nicht von denen Jugendlicher oder Erwachsener. Oft gehen traumatische Situationen mit einem erheblichen Maß an Schmerz und Leid einher. Typische Reaktionsmuster sind Kampf, Flucht oder Erstarrung. Wobei die Erstarrung besonders problematisch ist, da die betroffene Person keine Handlungsmöglichkeiten hat.

Viele Symptome, die im Zuge einer Traumafolgestörung nach einem traumatischen Erlebnis auftreten können und die das Umfeld meist als problematisch wahrnimmt, sind in Wirklichkeit wichtige Mechanismen des Selbstschutzes. So z. B. der Zustand der Dissoziation. Bei der Dissoziation schaltet das Gehirn die Gefühlswahrnehmung ab, weil diese für das betroffene Kind unerträglich ist.

Ebenfalls typisch für eine Traumafolgestörung sind sogenannte Flashbacks. Bestimmte Auslöser, auch Trigger genannt, versetzten den Betroffenen ganz plötzlich in die traumatische Situation zurück. Diese fühlt sich dann vollkommen real an. Wenn ein Kind beispielsweise zusammenzuckt, weil er oder sie ein lautes Geräusch hört oder einen bestimmten Duft riecht, dann weiß man heute, dass dahinter ein Überlebensmechanismus stecken kann. Gefährliche Reize führen zu einer Reaktion. Im Krieg kann ein lauter Knall einen Bombeneinschlag bedeuten. Es droht echte Gefahr und eine schnelle Reaktion ist überlebenswichtig. Ist das Kind nach der Flucht in einer sicheren Umgebung, können laute Geräusche dennoch eine heftige Reaktion auslösen, da sie das Kind in die traumatische Situation des Krieges zurückversetzen.

Flashbacks, sogenannte Nachhallerinnerungen, treten häufig auf, wenn ein Trauma nicht therapiert wurde. Diese Nachhallerinnerungen werden in einem Teil unseres Gehirns generiert, der Amygdala oder auch Mandelkern heißt. Wie in kleinen Tresoren sind dort die belastenden Erinnerungen sicher eingeschlossen. Jedoch kommen sie immer mal wieder zum Vorschein, vor allem dann, wenn der Betroffene getriggert wird.

Traumafolgesymptome sind natürliche Reaktionen des Gehirns auf eine Auslösesituation, die nicht natürlich oder normal war. Durchschnittliche Erfahrungen, auch unerfreuliche, kann unser Gehirn gut verarbeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass sich darauf Flashbacks ergeben. Ein traumatisches Erlebnis hingegen übersteigt die Verarbeitungskapazitäten und die Vorstellungswelt des Betroffenen. Denn wenn man selbst Opfer oder auch Zeuge von Gewalt wird, erschüttert das das eigene Grundvertrauen.

Wodurch kann ein Trauma ausgelöst werden?

Dr. Dietmar Eglinsky: Man unterscheidet zwischen Typ 1 und Typ 2 Traumata. Einmalige traumatische Erlebnisse, wie zum Beispiel ein Verkehrsunfall, zählen wir zu den Typ 1 Traumata. Die Betroffenen können diese in der Regel deutlich besser verarbeiten, als ein Typ 2 Traumata. Bei Typ 2 Traumata handelt es sich um eine Abfolge oder Serie traumatischer Erlebnisse. Das ist zum Beispiel bei wiederkehrendem Missbrauch der Fall. Es kann aber auch ein dauerhafter Zustand der Unsicherheit, wie er im Krieg herrscht, sein. Kinder, die in einem Kriegsgebiet leben, befinden sich in einem ständigen Zustand der Unsicherheit. Das bringt eine hohe Belastung und eine erhöhte Wachsamkeit, genannt Hypervigilanz, mit sich. Erhöhte Wachsamkeit ist wichtig, wenn man sich in eine potenziell gefährliche Situation begibt, also beispielsweise eine stark befahrene Straße überquert. Muss man sich aber Sorgen machen, dass jeden Moment eine Bombe das eigene Zuhause treffen könnte, befindet man sich dauerhaft in diesem erhöhten Wachsamkeitszustand. Insbesondere bei Kindern führt das zum Verlust von Sicherheit und Geborgenheit.

Wie stark ein Kind davon beeinträchtigt ist, hängt zum einen von seinem Alter, seinen kognitiven Fähigkeiten und dem daraus resultierenden Verständnis der Situation ab. Zum anderen spielt das Verhalten der Erziehungsberechtigten eine zentrale Rolle. Ihre Belastung überträgt sich auf das Kind. Dem Kind die eigene Wahrnehmung verständlich zu machen, ist dabei eine große Herausforderung für Eltern oder andere Bezugspersonen. Erziehungsberechtigte dürfen vor ihrem Kind auch Unsicherheiten benennen. „Ich weiß selbst noch nicht, wie ich die Situation einschätzen soll, aber ich bin für dich da, wir halten zusammen“. Kinder brauchen Orientierung und Hilfestellung. Deshalb ist es wichtig, dass Erziehungsberechtigte auch in für sie selbst überfordernden Situationen ihrem Kind die grundsätzliche Bereitschaft signalisieren, sich dem bedrohlichen Thema zu stellen.

Was sind Anzeichen für Traumafolgestörungen bei Kindern?

Dr. Dietmar Eglinsky: Je kleiner das Kind ist, desto unspezifischer sind die Symptome. Das können zum Beispiel Rückzug oder Trennungsängste sein. Genauso auch körperliche Symptome, wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Auch erneutes Einnässen bei einem Kind, was bereits trocken war oder der Verlust anderer bereits erworbener Fähigkeiten, kann auf ein Trauma hindeuten.

Je älter das Kind oder der Jugendliche ist, desto spezifischer sind die Symptome. Die Art des Traumas spielt ebenfalls eine Rolle. So sprechen Jugendliche, die beispielsweise einen Verkehrsunfall hatten, meist sehr offen über ihr Trauma. Eine Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch hingegen ist sehr schambehaftet.

Wenn ein Bruch in der Entwicklungslinie festzustellen ist. Wenn ein Kind, dass früher offen und fröhlich war, sich plötzlich zurückzieht, schlechte Noten schreibt oder sich selbst verletzt, sollte das uns Erwachsene sensibilisieren. Dann sollten wir versuchen, herauszufinden, ob das Kind eine traumatische Erfahrung gemacht hat und eine Traumafolgestörung vorliegt.

Muss eine traumatische Situation zwangsläufig zu einer Traumafolgestörung führen?

Dr. Dietmar Eglinsky: Nein, das Erleben einer traumatischen Situation führt nicht zwangsläufig zu einer Traumafolgestörung. Hier spielt die psychische Widerstandskraft des Einzelnen die entscheidende Rolle. Diese Widerstandskraft wird auch als Resilienz bezeichnet. Das beste Mittel, um die Resilienz von Kindern zu stärken, ist, ihnen das Gefühl zu vermitteln, geschützt zu sein. Das Gefühl von Sicherheit und das Wissen, eine Bezugsperson zu haben, mit der man sich über Sorgen und Ängste austauschen kann, stärkt die psychische Widerstandskraft. Erleben Kinder sich als selbstwirksam und entwickeln sie die Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen, wirkt sich das ebenfalls positiv auf ihre Resilienz aus.

Welche Möglichkeiten der Hilfen im Sinne von Stabilisierung und Traumatherapie gibt es?

Dr. Dietmar Eglinsky: Stabilisierung ist der erste wichtige Schritt. Was braucht das Kind, um sich sicher zu fühlen? Wie kann es wieder gut schlafen? Wie im Alltag mit seinen Ängsten umgehen?

Vor allem unmittelbar nach der traumatischen Situation ist es wichtig, feinfühlig für die Bedürfnisse des traumatisierten Kindes zu sein. Die Geschwindigkeit bestimmt dabei stets das Kind.

Die Psychoedukation ist ein weiterer entscheidender Baustein. Wir vermitteln dem Kind und auch seinen Erziehungsberechtigten, was eine Traumafolgestörung ist und wie sie entsteht. Nicht das, was das Kind wahrnimmt, ist verrückt, sondern die Ursache seiner Wahrnehmung ist verrückt. Also beispielsweise das Erleben von Krieg und zu sehen, was Menschen sich gegenseitig antun können – das ist verrückt.

Die Symptome, die das Gehirn im Zuge einer Traumafolgestörung produziert, sind nachvollziehbare Überlebensstrategien. Die hinderlichen Anteile dieser Überlebensstrategien, also zum Beispiel die Flashbacks, lassen sich gut mit therapeutischen Maßnahmen behandeln.

Doch man darf das Kind nicht drängen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sollte sich das Kind dafür entscheiden, muss das Verhältnis zum Therapeuten oder zur Therapeutin ein vertrauensvolles sein, damit die Therapie gelingen kann.

Konnte sich das Kind stabilisieren, arbeiten wir in der Therapie anschließend mit sogenannten Imaginationstechniken. Das kann beispielsweise ein imaginärer sicherer Ort sein, an den sich das Kind bei Bedarf zurückziehen kann. Oder auch die Bearbeitung der Flashbacks, die man durch gezielte Techniken, wie einen Film heller oder dunkler stellen kann. Diese Imaginationstechniken können das innere Erleben beeinflussen und helfen langfristig dabei, das Geschehene der Vergangenheit zuzuordnen.

Wie kann das Umfeld zum Beispiel in der Schule oder dem Kindergarten ein vom Krieg traumatisiertes Kind unterstützen?

Dr. Dietmar Eglinsky: Auch hier steht die Sicherheit im Zentrum. Es ist entscheidend, dem Kind einen geschützten Raum zu geben. Genauso wichtig ist die Autonomie des Kindes. Es sollte selbst bestimmen dürfen, welchen Situationen es sich aussetzt und vor welchen Situationen es geschützt werden möchte. Das Umfeld, also beispielsweise Lehrer/-innen oder Erzieher/-innen können achtsam beobachten, ob ein Kind auffälliges Verhalten zeigt. Ebenso empfiehlt es sich bei einem Verdacht auf eine Traumafolgestörung, Kontakt zu den Erziehungsberechtigten herzustellen. So kann man herausfinden, ob es Hinweise auf Belastungserfahrungen in der Familie gibt.

Niemals sollten die Kinder bedrängt werden, über Erlebtes zu sprechen. Lehrer/-innen oder Erzieher/-innen sollten signalisieren, dass sie da sind und behutsame Gesprächsangebote machen. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit sind hier entscheidend. Taktgeber ist dabei das Kind. Seine Autonomie muss stets gewahrt werden.

Wie können Erziehungsberechtigte ihre Kinder darauf vorbereiten, dass sie künftig mit Kindern, die Krieg erlebt haben, in den Kindergarten oder die Schule gehen?

Dr. Dietmar Eglinsky: Wenn Erziehungsberechtigte offen mit ihren Kindern sprechen, können diese ein Verständnis dafür entwickeln, was in Menschen vorgeht, die einen Krieg erlebt haben. Dabei muss immer auf das Alter und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes geschaut werden. Älteren Kindern kann man vermitteln, was eine Traumafolgestörung ist und wie sie sich äußern kann. Etwa, dass das betroffene Kind sehr schreckhaft ist, starke emotionale Reize zeigt oder erstarrt, wenn ihm etwas Angst macht. So können die Kinder das ungewohnte Verhalten der Gleichaltrigen besser einordnen. Jugendliche werden die Situation anspruchsvoller analysieren und in einen größeren Kontext setzen wollen. Hier steht das Klärungsbedürfnis im Vordergrund. Bei kleinen Kindern hingegen überwiegt das Bedürfnis nach Sicherheit. In jedem Fall sollten die Erziehungsberechtigten im Gespräch mit ihren Kindern stets authentisch bleiben. Das heißt auch, eigene Unsicherheiten zugeben zu können. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kindern ein gewisses Maß an Zutrauen zu vermitteln. Etwa, ein grundsätzliches Vertrauen in die funktionierenden politischen Systeme der westlichen Welt.

Melden sich in der Vitos Kinder- und Jugendpsychiatrie nun vermehrt Geflüchtete aus der Ukraine, deren Kinder Traumafolgestörungen haben?

Dr. Dietmar Eglinsky: In unserer Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel und unserer Ambulanz haben wir bisher kaum spezifische Anfragen von Menschen aus der Ukraine. Eher sind es Helfende, die sich bei uns informieren, wie sie betroffene Familien bestmöglich unterstützen können. Eine Erklärung dafür ist, dass es lange dauern kann, bis Traumafolgesymptome auftreten. Die Geflüchteten sind erst mal vor allem im Überlebensmodus. Die Erwachsenen müssen alltägliche Dinge, wie Wohnung, Schule und Sprachkurs organisieren. Die Auseinandersetzung mit dem Erlebten kommt meist erst dann, wenn eine gewisse Routine einkehrt, man den Kopf sozusagen frei hat und in sich hineinspüren kann. Gerade bei kleinen Kindern kann es sein, dass etwaige Auffälligkeiten erst Jahre nach dem eigentlichen Erlebnis auftreten.

Dr. Dietmar Eglinsky ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Kassel.

Bildquelle: Vitos/Meyer

Autor/-in
Anna Pfläging, Social Media Managerin